„Tränen“ – ein Brief von Uri Shani aus Israel

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Ich möchte Euch über die Tränen zu erzählen, nicht die vom Gas, an die bin ich gewohnt, sondern über die anderen Tränen, die ich gestern vergossen habe, Tränen der Trauer.
Für die Reise nach Hebron und nach Hause zurück brauche ich fünf bis sieben Stunden, wie ein Flug von Tel-Aviv nach Skandinavien, so hat es keinen Sinn, dies an einem Tag zu tun, es geht auch gar nicht. Also fahre ich in der Regel am Tag davor dorthin. Das bedingt auch, dass ich dann einer der Verantwortlichen in der Demo bin, aber das ist ein Preis, den ich gerne auf mich nehme. Die Übernachtung in Hebron erlaubt es mir, die Beziehungen zu unseren Partnern dort zu stärken, vor allem Hisham Sharabati und Annan Da’ana wurden enge Freunde. Dieses Mal übernachteten wir bei Hisham zu Hause. Wie immer sein Lächeln, seine funkelnden Augen, aber er hinkt ein wenig. Die Schusswunde, die sein Bein zerschmettert hat, will nicht heilen, und sie erinnert an dieses Massaker, vor 23 Jahren, heute sogar noch mehr. Denn das Massaker im Jahre 1994 endete nicht mit 29 Toten. Wenn einige dachten, dass nun Rabin eine Gelegenheit gegeben wurde, die gefährlichsten Siedler in allen besetzten Gebieten von dort hinauszuschmeißen, dann war die Reaktion anders: Es begann damit, dass die Evakuierung der Verwundeten verhindert wurde, dann wurde auf die Menschenmenge vor dem Krankenhaus gefeuert, dann kam die Schließung der Shuhada-Street, und Dutzende von militärischen Befehlen in den 23 Jahren seither gegen die Bewohner, die zur Schließung von über 500 Läden führte, und zur Schließung von weiteren 800 Geschäften, als indirekte Folge dieser Militärpolitik. Das Ziel des Zionismus ist nicht das Ende der Besatzung und die Evakuierung der Siedler, sondern die ethnische Säuberung, die Entfernung aller „Eingeborenen“, und das begann vor über einem Jahrhundert und es wird enden, wenn die letzten Zionisten erkennen werden, dass dies nicht der richtige Weg ist, in unserem Land zu leben. Jeder, der die wahre Natur des Zionismus nicht versteht, WILL sie nicht verstehen, und der wird wahrscheinlich auch dieses hier nicht weiterlesen, und nichts über meine Tränen erfahren.
Am Abend bei Hisham, umgeben von Frau, vier Söhnen und einer Tochter, sprachen wir über das marode Erziehungssystem. Ich fragte seinen ältesten Sohn, der in der zehnten Klasse ist, wie die Schule sei. Er mag sie nicht, und ich verstehe ihn. Ich mochte die Schule damals auch nicht. Die Kinder haben ihre Perspektive, und Annan, unser Freund im Hebron Defense Committee, hat die seine. Er ist Physiklehrer, und stellvertretender Vorsitzender des Bezirks Hebron in der Lehrergewerkschaft, und ein leitendes Mitglied der „Organisation der demokratischen Lehrer“, die mit den linken Parteien assoziiert ist. Im Bezirk Hebron leben etwa 900.000 bis eine Million Menschen. Aber es gibt nicht genug Schulen, und es gibt nicht genügend Klassenzimmer, und auch wenn man 40 bis 50 Kinder in eine Klasse stopft, haben sie keine andere Wahl, als in den wenigen Schulen in zwei Schichten zu unterrichten: die Frühschicht und die Spätschicht. Die Kinder der zweiten Schicht kommen müde in die Schule und Anan, der seit vielen Jahren unterrichtet, sieht, wie sich die Situation verschlechtert. Vor einem Jahr gingen die Lehrer in der besetzten Westbank in Streik. Die Puppen-Regierung von Abu Mazen reagierte mit Verhaftungen. Der Kampf war heroisch, aber Annan sagt, sie hätten nichts erreicht.
Und wir sahen auch ein wenig palästinensisches TV zusammen, mit Interviews mit der Familie von Amir Dandan, einem der Finalisten des „Arab Idol“. Am nächsten Tag, Freitag, war das Finale des arabischen Song-Wettbewerbs „American Idol“, und drei erreichten das Finale: Amir Dandan, ein Palästinenser „von innen“, aus Majd al-Krum in Galiläa, und Yaqub Shahin, ein Palästinenser aus Bethlehem, und Mohammad Ammar aus dem Jemen. Ich riskierte mein Leben und sagte, dass ich eine Schwäche für jemenitische Sänger habe. Aber unter der humorvollen, fröhlichen und angenehmen Atmosphäre war die Spannung da vor dem morgigen Tag: Was bereitet die Armee für uns diesmal vor? Wir kommen jedes Jahr am Jahrestag des Massakers um zu demonstrieren, in Erinnerung an die Toten, um die Öffnung der Shuhada-Strasse und die Beseitigung der Siedler und das Ende des Ghettos von Tel Rumeida zu fordern. Jedes Jahr haben sie eine andere Taktik. Vor fünf Jahren stoppten sie uns schon, wie wir von Tel Rumeida runterkamen, sie spuckten auf uns ihre Scheiße, die mit keiner Dusche weggeht, Produkt des linkssozialistischen Kibbuts Bet Alpha und vermarktet an alle schlimmsten Regime in der Welt. Ich habe damals auch auf deutsch darüber berichtet, und der Bericht wurde einigermaßen bekannt, weil zufälligerweise Sigmar Gabriel gleich davor in Hebron war. Vor einem Jahr ließen sie uns tatsächlich nahe zu dem kleinen Platz kommen, wo man von der Shuhada-Strasse zum „Bet Hadassa“ hinaufkann. Und fünf Minuten später brachen aus den Toren der Festung zwanzig oder dreißig Soldaten, die sofort mit zahlreichen Verhaftungen begannen. Sie wussten genau, wen sie verhaften wollten. Es war eine im Detail geplante Operation, offenbar hat sich da ein ehrgeiziger Offizier Mühe gegeben. Also, was habt ihr diesmal vorbereitet?

„Da die Wirkung des Gases nicht viel Zeit anhält, wiederholten sie die Übung alle paar Minuten. Und das alles natürlich auf Kosten der israelischen amerikanischen und deutschen Steuerzahler. Aber den unmittelbaren Preis bezahlten zuerst mal wir. Tränen, Würgen, Panik.“

Am Morgen erfuhren wir, dass das zionistische Regime in der Nacht bei Annan und einem anderen Aktivisten einen Besuch abstattete, um sie zu warnen und zu bedrohen. Sie warnten sie davor, an der Demonstration am nächsten Tag teilzunehmen, und sagten, sie kämen diesmal nur, um diese Nachricht auszurichten, aber das nächste Mal wird’s schlimmer. Das war neu. Das hatten sie bisher nicht gemacht. (Übrigens, ganz nebensächlich: Anan und der andere wohnen natürlich im Bereich, der außerhalb der Kontrolle der Israelis liegt…). Und was erwartet uns als nächstes? An die Demonstration, an der etwa 2000 PalästinenserInnen teilnahmen, schlossen wir Israelis uns an, mittlerweile kamen etwa 80 aus Tel-Aviv und Jerusalem, und wir gingen von der Moschee durch die Altstadt hinunter zur Shuhada-Strasse. Als wir uns dem kleinen Platz unten näherten, sagte ich den Demonstranten, für die ich verantwortlich war: „In einer Minute beginnen sie zu schießen.“ Ich wollte, dass sie bereit seien, denn einige von ihnen waren das erste Mal hier. Tatsächlich nach einer Minute eröffneten sie das Feuer. Eine große Flut von Gas, und dieses Mal nicht nur direkt in die ersten Reihen der Demonstranten, sondern auch in großem Bogen in die entfernten Gassen. Sie füllten das ganze Quartier zwischen der Moschee bis zur Shuhada-Strasse mit Gas. Da die Wirkung des Gases nicht viel Zeit anhält, wiederholten sie die Übung alle paar Minuten. Und das alles natürlich auf Kosten der israelischen amerikanischen und deutschen Steuerzahler. Aber den unmittelbaren Preis bezahlten zuerst mal wir. Tränen, Würgen, Panik. Man muss ständig das Gehirn mit dem Mantra speisen: „Es ist nicht so schlimm, es geht schnell vorbei!“ Und das ist ein schwieriger mentaler Kampf, denn das Gehirn empfängt aus dem Körper katastrophale Nachrichten, der ihm berichtet: Das ist das Ende. Ich werde sterben. Und nicht rennen!! Atmen!
Ich war schon ziemlich erschöpft, als ich in eine schmale Gasse kam, wo die Gasmenge gering war, und ein hoher schlanker Mann, mit kurzen Haaren und einer hässlichen Narbe am Kopf fragte mich, woher ich bin. Ich sagte: „Aus Galiläa. Und du?“ Er zeigte auf ein nahe gelegenes Haus und sagte: „Von hier.“ Ich nahm mir ein Herz und fragte frech: „Kann ich Eure Toilette benutzen?“ Er sagte: „Komm.“ Und führte mich in sein Haus, und sagte, vielleicht war es eine Entschuldigung, es sei ganz oben, und wir steigen drei Etagen hoch, und ich verfluchte die Siedler und ihre Schergen, die Soldaten, einer von ihnen ein Freund meines Sohnes. Ich erkannte in ihm die nationalistische Gehirnwäsche schon in der siebten Klasse, als ich ihn das erste Mal traf. Midian kam in eine neue Schule und brachte einen neuen Freund nach Hause. Ich war an diesem Abend gerade aus Deutschland zurückgekommen und erlebte eine harte Landung mit dem Geschwätz dieses Kindes. Vor ein paar Wochen wollte er mit mir über Hebron sprechen, wo er seinen Militärdienst tut, und erzählte mir von Baruch Marzel, das sei ein guter Mann und so weiter. Ich sagte ihm, klar und eindeutig: „Ich rede nicht mit Dir, solange Du dort bist. Es macht keinen Sinn zu versuchen, Dir ein anderes Bild zu zeigen, solange Du in Deiner Realität als Soldat in Hebron bist..“
Als ich das Bad verließ, immer noch versuchend, meinen Atem in Ordnung zu bringen, fragte ich den Mann, wie sie mit diesen Schweinen leben können? Er wies mit dem Finger auf die Stirn und sagte: „Siehst du das? Hier ist die Kugel hinein.“ Dann deutete er auf den Nacken und sagte: „Und hier ist sie hinaus.“ Dann führte er mich auf die Veranda, wo sie Wäsche aufhängen. Vom Balkon aus sieht man, in gerader Luftlinie, in einem Abstand von weniger als hundert Meter, das „Bet Hadassah“, die Hochburg der Siedler. Und in der Wand der Veranda 15 oder zwanzig Löcher von Gewehrschüssen. Ich fasste das Balkongeländer, ich war ich schockiert und verängstigt. Ich fühlte mich wie eine Ente in einer Schießbude, in jedem Moment kann ein Verrückter von dort auf mich schießen. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber nach einem halben Satz verschlug es mir die Sprache, und ich begann hemmungslos zu weinen. Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass so etwas nie passiert. Ich habe viele Dinge in meinem Leben gesehen, und mein Sohn sagt, er hat mich noch nie weinen sehen. Aber ich konnte es nicht stoppen. Das Schluchzen durchschüttelte mein Körper. Tränen der Trauer und der Scham. Ich war nicht wütend. Was soll ich Wut empfinden gegen Monster? Gegen Monster empfindet man keine Wut. Ich empfand Schmerz, unsäglichen Schmerz. Und dann auch Scham, denn was flenne ich hier so, mir ist ja gar nichts geschehen. Die Menschen hier, sie sind es, die das Leid ertragen. Und der Mann sagte zu mir: „Es macht nichts. Es ist okay, wir haben uns gewöhnt. Ihna Ssamidun, wir bleiben hier, egal was passiert….“

Uri Shani im Selbstportrait:

„Ich fürchte den Tod nicht, sondern das Schweigen! …..“

Ich wurde 1966 in Zürich, Schweiz, geboren.
In den Jahren 1982-1984 spielte ich im Schultheater des Gymnasiums.
Im Jahre 1985, nach Abschluss des Abiturs und nach langjähriger Arbeit in der Jugendbewegung „Haschomer Haza’ir“, wanderte ich in den Kibuz Magen im Süden Israels aus.
Im Jahr 1988/1989 gründete ich in Be’er-Schewa eine Gruppe der arabisch-jüdischen Jugendbewegung Re’ut-Sadaka.
Von 1989 bis 1992 und von 2000 bis 2002 studierte ich Theaterregie und -pädagogik im “ Seminar Hakibuzim“ in Tel-Aviv.
Im Jahr 1994/1995 lebte und studierte ich Arabisch in Kairo.
Ich bin verheiratet mit Michal Shani, und wir haben einen Sohn, Midian.
Ich spreche, lese und schreibe hebräisch, deutsch, englisch, französisch, arabisch, and übersetze Stücke aus den vier anderen Sprachen ins Hebräische.

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1 Reply to “„Tränen“ – ein Brief von Uri Shani aus Israel”

  1. Ausser „danke für den Bericht“ oder und „danke für die Bekenntnisse“ fällt mir nichts ein. Es ist im Stile, wie ich es mir aus der Ferne vorstelle.

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    https://bumibahagia.com/2017/03/24/traenen-ein-brief-von-uri-shani-aus-israel/

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