Die Idee fand ich so bezaubernd schön, dass ich sofort zusagte, als ich die Einladung erhielt. Bob, ein schwuler Aktivist aus Moskau, lud zu einem Treffen nach Kiew ein. Bob organisiert die Events der Moscow Bears und von Zeit zu Zeit auch Treffen in anderen Städten. Das letzte fand in Tallin, der Hauptstadt Estlands statt.
Jetzt also Kiew. Die Idee, ein russischer queerer Aktivist organisiert zusammen mit einer Gruppe ukrainischer Aktivisten ein internationales Treffen, an dem auch Schwule aus der Europäischen Union teilnehmen hatte die Strahlkraft der politischen Schönheit.
Zwar konnte eine Gay Pride in Kiew Anfang Juni nur unter größtem Polizeiaufgebot abgehalten werden, wobei es trotzdem zu Attacken kam, doch Bobs Bear-Meeting sollte keine Pride werden, welche die Öffentlichkeit suchte, sondern eher ein Treffen des Kennenlernens und der Vernetzung. Ich würde einfach ein Wochenende in Kiew verbringen, neue Leute kennen lernen und mir einen Eindruck verschaffen.
Gebucht hatte ich das Hotel Ukraine, direkt am Maidan. Es ist das Hotel, von dem aus die Schüsse fielen, die sowohl Demonstranten als auch Mitglieder der gegen die Demonstranten vorgehenden Polizei-Spezialeinheit Berkut töteten und so das Chaos bereiteten, das den Putsch gegen den damaligen Präsidenten Janukowitsch ermöglicht hatte. Wer schoss ist bis heute ungeklärt, die Aufklärung verläuft schleppend.
Die halbstündige Fahrt vom Flughafen zum Hotel verlief irritierend. Ein Militärtransport, noch einer und noch einer. Dort vorne Blaulicht; Polizei und ein Notarztwagen stehen in der Mitte der Autobahn, der Taxifahrer drosselt das Tempo bei der Vorbeifahrt, auch die Sanitäter sehen offenbar keinen Grund mehr zur Eile. Sie rauchen, am Boden ein notdürftig von einer Plane abgedeckter Männerkörper. Der Taxifahrer beschleunigt. Wir überholen weitere Militärtransporter, verlassen die Autobahn und erreichen das Zentrum.
Vor dem Hotel Ukraine stehen zur Erinnerung an die Erschossenen mit Bildern, Fahnen, Helmen und Kerzen geschmückte Panzersperren und Ziegelhaufen. Gruppen von Soldaten stehen an jeder Straßenecke rund um dasHotel und den Maidan.
Ich checke ein und mache mich dann auf den Weg zum Treffpunkt. Der weitere Abend verläuft in angenehmer, freundschaftlicher Atmosphäre. Als Willkommensgeschenk bekomme ich einen Teddybären. Dass er ein blau-gelbes Shirt trägt nehme ich einfach hin. Es scheint ein Zeichen der Zeit zu sein, auch noch den letzten freistehenden Zaunpfahl blau-gelb anpinseln zu müssen.
Es wird viel getrunken und je mehr wir trinken, desto mehr reden wir. Alle Hoffnung meiner neuen Freunde liegt auf Europa, auf der versprochenen Visa-Freiheit, auf die Aufnahme in die Europäische Union, auf vielleicht dann später auch den Euro, wenn sich alles stabilisiert hat. Schwule Rechte, Toleranz und eine offene Gesellschaft, das ist es, was sie sich erhoffen.
Es kommt bei meinen Gesprächpartnern die Idee auf, wenn Griechenland den Euro verlassen würde, könnte dann doch die Ukraine einspringen. Die Idee übersieht derart viel, ist derart naiv, dass ich mich zu einer Erwiderung hinreißen lasse, obwohl ich ein bisschen zu viel getrunken habe.
Ich sage, es wird nichts von all dem geben. Es wird keine Visa-Freiheit kommen, keine Aufnahme in die EU und kein Euro. Was kommen wird, ist die NATO-Mitgliedschaft und eine amerikanische Militärbasis. Der IWF wird installiert, der im Gegenzug für Kredite verlangt, die Renten zu kürzen, die Energiepreise vom Markt bestimmen zu lassen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, das heißt Arbeitnehmerrechte zu beschneiden und Löhne zu senken. Der IWF wird dafür sorgen, dass alles, was nicht niet- und nagelfest ist, privatisiert wird, sage ich. Eine kleine, korrupte Elite wird noch reicher, als sie schon ist, alle anderen werden ärmer. Und das war dann das Ende der westlichen Unterstützung der Demokratiebestrebungen in der Ukraine. Die Ukraine sei das Opfer in einem geopolitischen Spiel. Um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sei es nie gegangen.Meine ukrainischen Freunde glauben mir nicht. Sie sehen Zeichen und hören Worte aus Brüssel und der EU, die ihrer Hoffnung Nahrung geben. Ich werde diese fast verzweifelte Hoffnung auf die Europäische Union erst am nächsten Tag verstehen lernen. Bob schweigt zu alledem. Das Thema wird gewechselt, wir überlegen eine deutsch-russisch-ukrainische Präsenz auf einem CSD. Vielleicht lässt sich das realisieren.
Am darauffolgenden Tag bekommen wir Kiew gezeigt. Die Stadt ist schön, keine Frage. Eine erstaunliche Mischung unterschiedlicher Architektur bezeugt eine wechselhafte Geschichte und unterschiedliche kulturelle Einflüsse.
Am späten Nachmittag gehen wir auseinander. Ich mache mich allein auf den Weg.
Auf dem Maidan sind Schautafeln mit Bildern und Erläuterungen zum Maidanprotest aufgestellt. Der Erzählung, die dort verbreitet wird, schließe ich mich nicht an. Sie ist zu sehr völkisch, heldisch und nationalistisch.
Junge Rekruten sammeln allerorten Geld. Einer spricht mich an. Ich will wissen wofür er sammelt. Zur Unterstützung des Kampfes der territorialen Integrität der Ukraine, bekomme ich zur Antwort.
“Ich gebe kein Geld zur Unterstützung eines Bürgerkriegs”, antworte ich.
Es wäre kein Bürgerkrieg. Es sei ein Kampf gegen Terroristen und ein Krieg mit Russland.
“Zu einem Krieg gehören mindestens zwei. Russland weiß nichts von einem Krieg mit der Ukraine”, sage ich.
Es kommen Soldaten hinzu. Ich breche das Gespräch ab. Die Atmosphäre ist aggressiv und gespannt.
Ein Lautsprecherwagen macht Werbung für ein Bataillon, beschwört den Kampf, für die territoriale Integrität der Ukraine.
Ich gehe die Khreschatyk Straße entlang. Ich sehe eine EU-Fahne. Sie hängt neben der Flagge der Ukraine vor dem Landwirtschaftsministerium, das sich bei seiner Beflaggung offensichtlich nicht von Tatsachen irritieren lässt.
An jeder Ecke dieser gesteuerte Hass auf Russland. Selbst Klopapier mit dem Konterfei Putins kann man kaufen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite werde ich später eine Bar aufsuchen. Sie wirkte einladend mit ihrer großen Außenterrasse. Innen erstreckte sie sich über mehrere Räume. Das Bier wird selbst gebraut und schmeckt, es gibt Livemusik in der wechselweise die Ukraine und die Liebe besungen werden. Das Lokal ist gut frequentiert. Ich gehe durch die Räume, die für mehrere hundert Gäste Platz bieten und dann sehe ich sie da hängen, die Flaggen des rechten Sektors und des Freiwilligen Bataillons Asow. Offener Faschismus, ganz unverholen, nicht zu übersehen, nicht wegzuerklären.
In diesem Moment verstehe die verzweifelte Hoffnung meiner ukrainischen schwulen Freunde auf Europa, das allerdings nicht kommen wird, um es zum Besseren zu wenden. Im Gegenteil. In Brüssel findet zeitgleich eine Art Machtergreifung statt, die Griechenland in die Knie zwingt und nach deutscher Manier dem ohnehin schon am Boden liegenden Land nochmal kräftig in die Magengrube tritt. Es ist ein offener Putsch, antidemokratisch durch und durch, unter deutscher Federführung. Vermutlich stellt dies den Anfang vom Ende der Europäischen Union dar.
Putin hält ebenfalls fast zeitgleich im Rahmen des BRICS-Treffens vor der Shanghai-Gruppe eine Rede, in der er die Vision der aufstrebenden Länder zeichnet. Es ist Keynesianismus. Ein starker Staat, der einen Ausgleich zwischen den Einzelinteressen zum Wohle aller schafft. Eine positive Vision.
Die EU dagegen wird einem Finanzmarkttotalitarismus ausgeliefert und die Demokratie in erschreckender Weise beschnitten. Der Westen destabilisiert absichtsvoll Länder und Regionen, die in aller Menschenverachtung zu einem Spielball der Geopolitik degradiert werden wie eben die Ukraine. Wir kollaborieren mit Faschisten und installieren Postdemokratie über Freihandelsabkommen.
Aber wir haben auch alle Internet. Es kann dann zumindest niemand sagen, man habe das ja alles gar nicht gewusst.
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